Das Abenteuer des Wanderns
Wandern ist etwas anderes als Bergsteigen – auch dann, wenn es in den Alpen stattfindet. Als Wanderer sucht man nicht das Besondere und Spektakuläre, sondern möchte eine Gegend in ihrer ‘Breite’ kennenlernen – mit der Ruhe und Zeit, die dazu nötig ist. Das verschafft eine ganz eigentümliche, intensive Form des Erlebens – ein hohes Maß an Entspannung und Erfüllung.
Dass es beim Bergwandern nicht um das Ausloten von Leistungsgrenzen geht, heißt umgekehrt nicht, dass es etwas für Spaziergänger wäre. Während der Spaziergänger den vertrauten, für ihn präparierten Nahraum sucht, möchte der Wanderer diesen gerade überschreiten. Er tut dies aber nicht, indem er neue Spuren legt, sondern indem er den Spuren folgt, die andere in der Gebirgswelt hinterlassen haben: Hirten, Jäger, Säumer, Händler, Partisanen. Er benutzt also ‘sinnvolle’, historische Wege – Wege, die auch durch die Dörfer führen und auf diese Weise Begegnungen mit Gegenwart und Vergangenheit der hier lebenden Menschen gestatten. Tatsächlich sind es die Bergbewohner, denen die alpine Gebirgswelt ihre Schönheit verdankt. Indem sie die ehedem bewaldeten Hänge in Wiesen und Weiden verwandelten, ließen sie jenen Kontrast zwischen den unzugänglichen Fels- und Eisregionen und der offenen Kulturlandschaft entstehen, der dem Auge so attraktiv erscheint und unbedarfte Touristen immer noch für naturgegeben halten. Eine Wanderung durch die Alpen lässt uns einen Lebensraum betreten, in dem Menschen ihre Daseinsmöglichkeiten der Natur abringen mussten und die es gerade deshalb gelernt haben, rücksichtsvoll mit ihr umzugehen – einen Lebensraum, der nicht von radikaler Ausbeutung, sondern von nachhaltiger Koexistenz von Kultur und Natur geprägt ist.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Leider ist es so, dass diese Landschaftsbiotope vielerorts nicht wiederzuerkennen und die ruhigen Täler von einst zu touristischen Tummelplätzen geworden sind. Doch täuscht sich, wer die Entwicklungen der uns bekannten Destinationen einfach auf das gesamte Hochgebirge überträgt. In Wirklichkeit haben 40 Prozent der Alpengemeinden keinen nennenswerten Fremdenverkehr, vor allem im Piemont oder in Friaul und Slowenien. Bedroht sind diese Lebensorte nicht durch eine allzu leichtfertige Naturzerstörung für die Freizeitindustrie, sondern und ganz im Gegenteil, durch Entvölkerung und Verödung. Dass hier die Natur mit aller Macht zurückkehrt, ist für Besucher aus dem Norden ein Faszinosum und hat doch auch eine irritierende Seite: Schließlich taucht man in Landschaftsräume ein, in denen sich die Vereinnahmungsrichtung umgekehrt hat: Statt mehr und mehr vom Menschen zurückgedrängt zu werden, rückt die Wildnis bis in die einstmals bewirtschafteten Talgründe vor. So erlebt sich der Wanderer zugleich in der Vergangenheit wie in der Zukunft – einer Zukunft, in der sich die Natur wieder frei entfaltet und die pastorale Schönheit der Kulturlandschaft zu überwachsen beginnt. Das stimuliert den Zauber der Melancholie, lässt aber auch ein seltsames Freiheitsgefühl entstehen: man genießt das Glück, den durchorganisierten und technisierten Freizeitpark der Nordalpen hinter sich gelassen zu haben, ein Draußensein zu erleben, das diesen Namen noch verdient. Doch keine Angst! Mit uns die vergessendsten Alpenregionen zu bereisen heißt nicht, das Sicherheitsnetz des 21. Jahrhunderts zu verlassen. Dass wir oftmals in Gebieten unterwegs sind, in denen Handys keinen Empfang haben, kann einem im Zeitalter des Kommunikationsterrors ja eher willkommen sein. Mit Bären, Wölfen und Räubern ist trotzdem nicht zu rechnen. Fern bleiben wir auch den Abenteuerspielplätzen des Hochgebirges, den Kletterbezirken und sogenannten ‘Todeszonen’. Zudem können Sie sich darauf verlassen, dass wir die richtigen Wege auch dann finden, wenn hier seit Jahren schon niemand mehr gegangen zu sein scheint.
Der Grande Traversata delle Alpi (GTA)
Weitgehend unverfälscht präsentiert sich die alte Kulturlandschaft vor allem rund um die ‘Grande Traversata delle Alpi’ (‘GTA’), einem Weitwanderweg, der den piemontesischen Westalpenbogen quert und seine einsamen Täler miteinander verbindet. Einerseits findet man hier eine Fülle alter Saumpfade und Wirtschaftswege, die mit Leben und Geschichte der Bergbauern bekannt machen, andererseits besteht noch nicht das mehr oder weniger offene Spannungsverhältnis zwischen Gästen und Einheimischen, das viele der bekannteren Alpenorte heute so abschreckend und entsprechende Bemühungen aussichtslos macht. ‘Sanfter Tourismus’ kann hier noch mehr sein als bloße Phrase oder knöcherne Pflichtübung: Eine bescheidene und zugleich befriedigende Form des Bekannt- und Vertrautwerdens mit Natur und Kultur. Dabei liegt die Idee der Umwelt- und Sozialverträglichkeit bereits im Konzept der GTA: Der Fernwanderweg greift ausschließlich auf bereits bestehende Wege zurück, die allenfalls etwas freigeschlagen und markiert werden mussten. Auch auf Hotel- und Hüttenneubauten wurde verzichtet: Man übernachtet nicht in der Höhe, sondern in den Talorten selbst – zumeist in funktionslos gewordenen, zu einfachen Unterkünften umgestalteten Schul- oder Bauernhäusern, die von Einheimischen betreut werden. Die Einnahmen aus dem Wandertourismus kommen so allein der Dorfbevölkerung zugute. Der ‘soziale Sinn’ der GTA ist es, die Abwanderungsbewegung zu stoppen, durch die sich die vergessenen Täler des Piemont entvölkert haben und noch weiter entvölkern. Das alles ist erstaunlich ideal – so ideal, dass man sich wundern muss, dass das Projekt überhaupt realisiert wurde. Doch die Italiener wandern nicht und so blieb fast überall das nötige Publikum aus. Viele der ‘Posto Tappa’-Betreuer verloren bald die Lust, nahezu ungenutze Unterkünfte offenzuhalten. Die Wege wurden nicht mehr freigeschlagen, Markierungen nicht mehr erneuert – und auf die Karten ist noch heute nicht überall Verlass. Um den kulturgeschichtlich interessantesten Teil der GTA, die Ostroute, kümmert sich kein Mensch mehr. Nicht weniger problematisch ist, dass die GTA in weiten Teilen den Charakter eines anstrengenden Bergwegs hat, der mit nur durchschnittlicher Kondition kaum zu bewältigen ist.
Ost- und Hauptroute der GTA
Unsere Idee, Gruppenwanderungen zu organisieren, ist die Reaktion auf solche Unzulänglichkeiten. Dort, wo die Infrastruktur der GTA zusammengebrochen oder die Streckenführung zu hart ist, haben wir nach Alternative Ausschau gehalten, bei denen man sich nicht ‘kaputt’ macht, der Kontakt mit einer phantastisch ursprünglichen Kulturlandschaft dafür besonders intensiv ist. Im Zentrum unseres Angebots stehen deshalb die vernachlässigten Etappen der Ostroute (Okzitanien I-III, Val Varaita, Monviso). Sie führen bei zumeist nur mittleren Höhenunterschieden vornehmlich durch Dörfer und Landstriche, an denen die Geschichte vorbeigegangen zu sein scheint. Wenn es hier in die ökologisch labilen Zonen des Hochgebirges hinaufgeht, dann auf traditionellen, gut befestigten Wegen. Auf konditionell unehrgeizigen 4-6 Stunden-Wanderungen bewegen wir uns über alte Pass- und Maultierwege und treffen auf Ortsbilder, die überall sonst im Alpenraum schon verschwunden sind. Auch Steinbogenbrücken, steingefasste Brunnen und alte Backhäuser liegen an unserem Weg; nicht als besonders ausgewiesene ‘Sehenswürdigkeiten’, sondern als Ausdruck regionaler Normalität. Auch auf der alpinistischeren Hauptroute der ‘GTA’ bieten wir Wanderungen an (Zwischen Wildnis und Niemandsland, Monte Rosa, Val d’Ossola), die vornehmlich die offizielle Wegführung nutzt, sie teilweise aber auch umgeht. Diese ist im Bereich der Walliser Alpen eine ‘Knüppeltour’, 1000m-Auf- und Abstiege an einem Tage sind keine Seltenheit.
Zwischen Kultur und Natur
Unsere Routen halten sich dagegen an die alte Kulturlandschaft, die in dieser Region durch gut erhaltene Saumpfade und Walsersiedlungen besticht. Aber wie schon bei der Ostroute liegen auch hier Natur und Kultur ganz dicht beieinander – beim überschreiten 2000m-2500m hoher Gebirgspässe kommen wir in den Genuss einmaliger Fernsichten: Auf der einen Seite liegt tief unter uns die nahegelegene Po-Ebene, auf der anderen eine von modernen Nutzungsansprüchen weitgehend verschonte Gebirgslandschaft, aus der das Monte Rosa-Massiv weltfern herausragt. Eine weitere Piemont-Tour führt durch das Val Formazza, das seinerzeit dem GTA-Konzept integriert werden sollte, heute aber um so vergessener ist. Von hier folgen wir einem auf das 14. Jahrhundert zurückgehenden Säumerpfad über Gries- und Grimselpaß in die zivilisierte Schweiz, wo man einige Prunkstücke des alten Handelsweges vorbildlich restauriert hat.
Jenseits der GTA
Mag sein, dass die Ursprünglichkeit der piemontesischen Berggebiete im Alpenraum unvergleichlich ist. Trotzdem gibt es noch andere Winkel im touristischen “playground of Europe”, die für eine inspirierende Wanderwoche bestens geeignet sind. Die Julischen Alpen und der Karst in Slowenien etwa, die hintersten Winkel des Friaul, die Schweizer Surselva, oder das nur als Durchfahrtsstrecke bekannte Aostatal. Aber selbst reichen Regionen wie Südtirol und Trentino kann man noch Wege nach menschlichem Maß finden, auf denen man trotzdem nicht mit germanischen Wandererkarawanen rechnen muss. Das gilt auch für die Alpenüberquerungen aus unserem Programm. Im Unterschied zum heillos überlaufenen Europäischen Fernwanderweg E5, sind wir hier auf erstaunlich einsamen Säumerwegen unterwegs, die noch in ihrer mittelalterlichen Pflasterung erstrahlen und uns Schritt für Schritt tiefer in die Geschichte der alpinen Mobilitätskultur hinein führen
'Tra Cultura e Natura' (TCEN)
ist der Name für ein kleines Unternehmen, in dem niemand bereit ist, das Lustprinzip über Bord zu werfen. Obwohl unsere Touren ausgesprochen beliebt (und gelegentlich schon zu Saisonanfang ausgebucht) sind, denken wir nicht im Traum daran, zu expandieren und immer mehr Teilnehmer mit Hilfe von Honorarkräften auf den ewig gleichen Wegen durchs Gebirge zu schleusen. Wir erlauben uns vielmehr den Luxus, auch die gefragtesten Touren nur einmal pro Jahr anzubieten und maximal 15 Personen mitzunehmen (Ausnahmen werden im jeweiligen Jahresprogramm angekündigt). Das mag unökonomisch und unprofessionell erscheinen, aber davon profitieren Sie, als TeilnehmerIn, ebenso wie der Tourbegleiter, der in der meisten Zeit des Jahres ebenfalls ganz anderen Dingen nachgeht. Auch bei uns hat sich auf diese Weise die Freude am Unterwegssein erhalten – und das Engagement: Es ging uns niemals nur um die Vermarktung von Geheimtipps, sondern auch darum, vom Reiz der Langsamkeit zu überzeugen – von einer Reiseform, bei der der Komfort nicht das Maß aller Dinge ist und man sich nicht nur die sogenannten `Sehenswürdigkeiten` herauspickt. Aus diesem Grund verzichten wir weitestgehend auf Rundtouren von festen Vierstern-Quartieren aus. Einen umfassenden Einblick in eine fremde Welt erhalten zu wollen, heißt, sich auf die von Ort zu Ort wechselnden Gegebenheiten einzustellen, sich immer wieder mit Neuem konfrontieren zu lassen. Dass wir dem Trend zur ‘Komfortwanderung’ entgegentreten, die Touren auch anstrengende Etappen haben und die Unterkünfte gelegentlich bescheiden sind, bedeutet allerdings nicht, dass wir uns dem Prinzip der ‘Entsagung’ verpflichten. Im Gegenteil: Die Angebote der heimischen Gastronomie lassen wir uns keinesfalls entgehen. Sie sind es, die das Kennenlernen der anderen Kultur erst abrunden und es uns ermöglichen, Bescheidenheit und Genuss miteinander zu verbinden. Dabei lassen wir auch Geld in der Region – und bei den richtigen Leuten. “Sparbrötchen”-Touren, bei denen man von mitgebrachten Aldi-Konserven lebt oder man die KundInnen durch einen niedrigen Grundpreis über die wirklichen Kosten hinwegtäuscht, wird man in unserem Programm vergeblich suchen. Ein mehr als reichliches, landestypisches Abendessen ist immer im Preis eingeschlossen, teilweise sogar der Wein. Auch VegetarierInnen kommen auf ihre Kosten. Und bei manchen Touren gibt es auch erstaunlich komfortable Quartiere, im Val Venosta oder auf der Via Sett, und natürlich bei unseren Standortwanderungen, die alle an sehr speziellen Orten stattfinden.
Literatur zur GTA
- W. Bätzing, Grande Traversata delle Alpi (Rotpunktverlag)
- Teil 1: Der Norden
- Teil 2: Der Süden
- E. Neubronner, Der Weg (Bildband)
- G. Fitzthum, Zur Philosophie der Naturbegegnung: Auf dem Weg – Zur Wiederentdeckung der Natur (Graue Edition, 2014)